Der folgende Text ist eine Antwort des Bündnis für Menschenwürde und Arbeit auf einen Beitrag in der Rheinischen Post vom 15. Februar 2021, verfasst von deren Mitarbeiterin Birgit Marschall unter dem Titel:
Debatte um Hartz-IV - Regelsatz: Die große Corona-Umverteilung
Das regionale Bündnis für Menschenwürde und Arbeit Mönchengladbach und Umgebung (BMA) bittet die Rheinische Post, unsere folgende Entgegnung auf den Beitrag "Die große Corona-Umverteilung" (15. Februar 2021, Autorin: Birgit Marschall) an entsprechend prominenter Stelle in der RP abzudrucken.
Unser Bündnis, zu deren Gründern der Ehrenbürger der Stadt Mönchengladbach, Edmund Erlemann, gehörte, hat sich in den mehr als fünfzehn Jahren seines Bestehens bemüht, prekäre Lebensverhältnisse in unserer Gesellschaft, Kinder- und Altersarmut, das existenzbedrohende Elend von MigrantInnen und geflüchteten Menschen und die oft ausweglose Lage von alleinerziehenden Müttern öffentlich zu machen und diesen oft menschenunwürdigen Zuständen sozialpolitisch und menschlich entgegenzuwirken. Unsere Erfahrungen insbesondere mit GrundsicherungsempfängerInnen hat uns bewogen, unseren "" zu formulieren, den inzwischen zwanzig Organisationen und Verbände unterzeichnet haben. Über diesen Appell, der sich an die politischen EntscheidungsträgerInnen richtet, haben wir ausführlich mit dem Mönchengladbacher Landtagsabgeordneten Jochen Klenner gesprochen, er wird außerdem Thema bei Treffen mit der Bundestagsabgeordneten Gülistan Yüksel (SPD) und der Vorsitzenden des Stadtverbandes von Bündnis90/Die Grünen, Kathrin Henneberger, im März sein.
Wir stellen fest, dass der Beitrag von Frau Marschall weder sachlich unterfüttert ist noch den Lebenslagen von Hartz-IV-EmpfängerInnen auch nur annähernd gerecht wird. Vielmehr sprechen aus ihm so viel Unwissenheit, Verachtung für arme und ausgegrenzte Menschen und hochmütige Vorurteile, dass wir der Meinung sind, er bedarf – nicht nur in unserem und dem Interesse der betroffenen Menschen, sondern auch der Leserschaft der Rheinischen Post – der Korrektur.
1. Die VertreterInnen von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden wissen, wie auch wir und viele andere Menschen, wovon sie reden, wenn sie eine Erhöhung der Regelsätze im Umfang, gegen den Frau Marschall verbal "zu Felde zieht", einfordern: Die empirischen Belege für die vielfältige Bedrohung von armen Menschen durch die Pandemie sind eindeutig und zahlreich, und sie erschöpfen sich nicht im Fehlen von Atemschutzmasken und Laptops, sondern in umfassender materieller, gesundheitlicher, psychischer Not und in der Zunahme von Gewalterfahrungen vor allem von Frauen und Kindern, ausgelöst durch räumliche Enge und Aussichtslosigkeit, die Aggressionspotenziale steigern, ohne dass es von irgendeiner Instanz oder Institution Hilfe geben würde. Jüngste Statements von Prof. Dragano (Universität Düsseldorf) in einem Interview in der "tageszeitung" und einem Bericht in der ARD-Sendung "Panorama" bestätigen unsere Einschätzungen nachdrücklich.
Eine Erhöhung des Regelsatzes um 146 €, wie er von den Verbänden gefordert wird, zuzüglich eines Corona-Bonus von monatlich 100 €, gleicht die zusätzlichen finanzielle Belastung nur unzureichend aus und wird in den meisten Familien nicht einmal hinreichen, vielleicht – vor allem den Kindern - ein klein wenig Entlastung zu schaffen. Diesen prekär-aussichtlosen Lebenslagen entgegenzuhalten, wie die Verfasserin es tut, schließlich müssten alle darben und verzichten, denn "andererseits" seien Reisen, Restaurantbesuche und Shopping ja ohnehin nicht möglich, ist an Zynismus kaum noch zu überbieten: Als sei der Verzicht auf diese "Tätigkeiten" mindestens so schwer zu ertragen wie die alltägliche existenzielle Not von Hartz-IV-EmpfängerInnen; deshalb wohl stehen ihnen nach Auffassung der Autorin allenfalls "punktuelle Hilfen" zu, die erfahrungsgemäß überwiegend "in der Pipeline" – an die die meisten von ihnen, das müsste auch Frau Marschall wissen, gar nicht angeschlossen sind - steckenbleiben, also sie als reale Hilfe nicht erreichen.
2. Der Text nimmt uns mit auf eine Reise nach Absurdistan. Eine Unterstützung für arme Menschen, die im Vergleich zu den Hunderten Milliarden für Auto-, Flug- und Reisekonzerne – und nicht zu vergessen: die Pharmaindustrie – nicht mehr als "Peanuts" sind, führe angeblich zu strukturellen Veränderungen, die einem Erdbeben mit zerstörerischen Folgen für die ganze Gesellschaft gleichen, denn es handelt sich um "tektonische Verschiebungen im Sozialsystem". Die alljährlichen Armutsberichte von Wohlfahrtsverbänden, die vielen Studien von Armuts- und GesundheitsforscherInnen zu den existenziellen, biografischen, psychischen, gesundheitlichen Folgen von prekären Lebensverhältnissen, unsere Erfahrungen mit Menschen, die unter ihnen leiden, transportieren eine gegenteilige Gewissheit: Finanzielle Entlastung dieser Menschen würde die ganze Gesellschaft ein wenig gerechter und friedlicher machen, und sie würde Hunderttausenden Kindern ein wenig mehr Lebenschancen eröffnen, statt sie weiter offensiv, auch durch verbale Attacken wie in dem RP-Text, auszugrenzen.
3. Kaum ein Wort ist in den letzten Monaten so sehr strapaziert worden wie die "Solidarität". Frau Marschall erklärt uns die Gesellschaft, in der sie und wir leben, mit einfachen Worten: Der Souverän, also wir WählerInnen, wird mehrheitlich einer Erhöhung der Regelsätze ohnehin nicht zustimmen. Ihr scheint entgangen zu sein, dass "der Souverän" seit einem Jahr nichts mehr zu sagen hat, weil die Exekutive nicht nur, ohne parlamentarische Zustimmung einzuholen, alle wichtigen Entscheidungen fällt, sondern auf diese Weise auch die Solidarität – wir kennen dieses Muster schon aus der Finanzkrise 2008/09 – bevorzugt mit denen, deren Wohlstand nicht gefährdet werden soll, mit Aber-Milliarden sponsert. Verbände und wir fordern nicht weniger – aber auch nicht mehr – als eine vergleichsweise maßvolle Solidarität mit denen, die unter den Folgen der Pandemie – empirisch hinreichend belegt – am meisten leiden. Und im Gegensatz zur Autorin sind wir überzeugt, dass ein demokratisches Verfahren, also eine Befragung des Souveräns - der Menschen gesellschaftsweit – Solidarität nicht mit TUI und Lufthansa, sondern mit den Menschen, die Hilfe bitter nötig haben, demonstrieren würde.
4. Die Verfasserin des RP-Textes steuert souverän auf den Höhepunkt ihres Pamphlets, den Griff in die Mottenkiste der Niedertracht gegen das Prekariat, zu. Die "Eigenschaften des 'Homo oeconomicus'" schlagen ihrer Meinung nach durch: Mehr Geld, weniger Lust zum Arbeiten, also lieber als Sozialschmarotzer vegetieren statt zu arbeiten, das Sozialsystem ausnutzen, statt für sich selbst zu sorgen. Diese unflätige und unerhörte Unterstellung, über die es lange öffentliche Debatten gab, in einer Situation zu reanimieren, in der die Not vieler Menschen von Tag zu Tag wächst, in einem Leitartikel der RP zu lesen, ist keine Lappalie. Millionen von Menschen zu diffamieren, ihnen zu unterstellen, ihr bevorzugtes Interesse sei, ihre gut verdienenden und Steuern zahlenden Mitmenschen auszunutzen und "auf der faulen Haut zu liegen", lässt diese Zeitung auf Bild-Zeitungs-Niveau sinken. Die meisten arbeitslosen und alimentierten Menschen, das wissen alle, die mit ihnen beruflich oder ehrenamtlich zu tun haben, und das zeigen zahlreiche wissenschaftliche Studien, wollen arbeiten, wünschen sich "anständige", also den Lebensunterhalt sichernde Arbeitsverhältnisse. Dieser verbale Rundumschlag gegen Millionen perspektivloser Menschen, ist nicht nur für diese selbst, sondern auch für uns als ihre politischen KooperationspartnerInnen, schwer erträglich.
5. Schließlich schafft die Autorin es, von ihrer wohlfeilen Stellung aus, gleich allen Menschen, die ihren Lebensunterhalt hart erarbeiten müssen, ihren "Stinkefinger" zu zeigen. Als Folge der Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze wittert sie ein bedrohliches Monster auf uns alle zukommen, die Erhöhung der Tariflöhne und des Mindestlohnes. Den LeserInnen sollen offensichtlich bei der Vorstellung, die Löhne könnten steigen, kalte Schauer über den Rücken laufen – angesichts nicht nur der horrenden Corona-Subventionen, die von den LohnempfängerInnen großenteils finanziert werden, sondern der Tatsache, dass viele Reiche durch die Pandemie noch reicher geworden sind, eine schallende Ohrfeige für die von Kurzarbeit und Entlassungen betroffenen Menschen.
6. Zwei besonders obszöne Pointen hebt die Autorin für den Schluss ihres Artikels auf. Zunächst befürchtet sie, Hunderttausende könnten nicht mehr als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, also nicht mehr "ihre Arbeitskraft dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen", weil sie die höheren Transferleistungen als Einladung zum Faulenzen betrachten. Diese These ist besonders pikant, denn diesen Menschen stehen fast ausnahmslos Beschäftigungen aus dem Niedriglohnsektor zur Verfügung, die für die Sicherung ihres und des Überlebens ihrer Familien nicht hinreichen – und die direkt in die Altersarmut führen: In der Tagesschau vom 14. Februar um 20.15 h wurde, als passgenauer Kommentar zu den Anmaßungen der Autorin, berichtet, dass etwa 3 Millionen Menschen in die Altersarmut rutschen, obwohl sie lebenslang gearbeitet haben, eben zu Niedriglöhnen. Aber dann, das empörende Pamphlet abrundend, beruhigt die Autorin – gestützt auf sogenannte Experten, die sie zitiert – ihre Leserschaft, die sie offensichtlich ob der drohenden sozialen Umwälzungen durch ein paar Dutzend Euro Erhöhung von staatlichen Bezügen verstört und verängstigt wähnt: Sie sei überzeugt, so ihre abschließende Breitseite gegen "die da unten", "die Aussichten für Hartz-IV-Empfänger auf mehr Geld vom Staat in der nahen Zukunft sind allerdings ohne besondere Eingriffe eher gering – was teils das Aufbegehren der Sozialverbände erklärt".
Damit es so bleibt, damit die gesellschaftliche Umverteilung von unten nach oben nicht gestört wird, damit kein Kind aus einer Hartz-IV-Familie meint, es könnte vielleicht doch Chancen auf einen höheren Schulabschluss haben und einem anderen aus der gesellschaftlichen Klasse, in der die Autorin lebt, später einen gut bezahlten Job streitig machen, veröffentlicht die Rheinische Post solche Artikel ? Wir meinen: ein journalistisches Desaster, der fragwürdige Beitrag einer überregionalen Tageszeitung zur sozialen Spaltung der Gesellschaft.